Migräne – Yogatherapie als Weg aus Enge und Ohnmacht

Von Anke Schneider und Dr. Günter Niessen

Symptomatik der Migräne

Die Symptomenliste ist so bunt, dass wir ein ganzes Buch über das äußere Erscheinungsbild und die subjektiven Erfahrungen der Betroffenen schreiben könnten. Nie handelt es sich bei der Migräne einfach nur um Kopfschmerzen; immer sind andere zum Teil schwerwiegende vorausgehende und begleitende Symptome präsent. Im Gegenteil ist der oft unerträgliche Kopfschmerz allenfalls die Kulmination der Symptome. Innerhalb von Sekunden, Stunden oder auch Tagen kündigt er sich mit Vorboten an, der so genannten Aura. Unruhe, Ängste, Herzrasen, Übelkeit, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit oder Heißhunger, Vergesslichkeit aber auch Bauchschmerzen oder ausstrahlende Schmerzen hinunter in den Körper und die Extremitäten mit Kribbeln, Brennen und Berührungsempfindlichkeit gehen oft voraus. Die Spannung der Nacken- und Kiefermuskulatur begleitet oft ein scheinbar undurchdringliches Karussell sich wiederholender Gedanken. Im Verlauf konzentriert sich die Symptomatik oft zunehmend auf die Wahrnehmung von Enge; eines Schädels, der zu klein für alle darin befindlichen Gedanken und Gefühle zu sein scheint, so dass Übelkeit und Erbrechen zunehmen, die Augen auf Tunnelblick schalten und so empfindlich werden, dass die Betroffenen nur noch den Rückzug antreten können, wenn es einmal so weit gekommen ist. Ohnmacht kennzeichnet die subjektive Wahrnehmung dieses Prozesses und wird genährt durch die Erfahrung der meisten Migränepatienten, dass es relativ egal ist, was sie tun, zu welchem Arzt sie gehen oder welches Medikament sie einwerfen würden.

Ziele der Yogatherapie bei Migräne

Yogatherapeutisch geben die individuelle äußere Situation, die Ausprägung der Symptomatik und die faktischen Möglichkeiten der Betroffenen den Rahmen der Maßnahmen vor. Grundlegende Überlegungen sind:

  • Raum schaffen – also Weite, damit der Schädel nicht mehr zu klein ist
  • Zeitempfinden regulieren: Als Yogatherapeuten und Therapeutinnen können wir Zeit geben, denn Verlangsamung ermöglicht Achtsamkeit und Achtsamkeit ist die Voraussetzung dafür, eine Wahl zu haben. Die Wahl zu haben ist das Gegenteil von Ohnmacht.
  • Entspannung ermöglichen, denn weiter so ist keine Option
  • die Stressreaktion des Körpers frühzeitig erkennen zu lernen ermöglicht – mit etwas Übung – die aktive Umwandlung der Reaktion des zentralen und vegetativen Nervensystems; „courage response“ statt „stress response“
  • wahrhaftig Eigenverantwortung zu übernehmen, also Verantwortung für sich selbst, um aus den Mustern hinaus in sinnvolles Handeln zu gelangen ermächtigt die Betroffenen und ist das Gegenteil von Machtlosigkeit
  • Hinschauen ermöglichen, also auch dafür gemeinsam den Raum zu halten, damit die Betroffenen sich verstehen lernen und dann gute Entscheidungen treffen können
  • Aus Sicht des Āyurveda beziehen sich die körperlichen Maßnahmen natürlich immer individuell auf den ganzen Menschen. Beim Vorherrschen einer Vata dosha Erhöhung werden sinnvolle nährende Maßnahmen (nasyam mit Ghee, ruhige Umgebung, regelmäßiges, leicht bekömmliches Essen und vorherrschendem Pitta dosha auch ausleitende Maßnahmen inkl. therapeutischem Erbrechen (vamana“, Bitterstoffe und intensiver Nelkentee empfohlen. Natürlich gibt es unglaublich viele Ernährung betreffende Maßnahmen, die den Umfang dieses Artikels sprengen würden.

Was spezifisch können wir mit Yogatherapie bei Migräne tun?

  • Als Yogatherapeutinnen und Therapeuten können wir auf allen Ebenen einen Raum kreieren, in dem alles sein darf und nichts muss. Unser Angebot ist die Matte und ein sicherer, warmer und von Wohlwollen getragener Raum der Begegnung, in dem die Betroffenen nicht alleine sind und hilfreiche Anregungen zur selbsttätigen Durchführung bekommen.
    • Gemeint ist aber auch der Raum im eigenen Körper, der sich nicht mehr nur auf den Kopf bezieht, sondern ausweitet den Rumpf hinunter bis zu den Händen und Füßen. Nur so kann sich Enge in Weite verwandeln
    • Raum bezieht sich auch auf den Atemraum, denn jede Zelle unseres Organismus atmet mit und möchte teilhaben an der Energie, die mit dem Atem durch unseren ganzen Körper fließt. Wichtig ist es bei allen Maßnahmen, diese so langsam zu gestalten, dass sie erlebt werden können
    • Raum geben heißt auch Raum für die eigene Sprache, neue Gedanken und die Wahrnehmung eigener Bedürfnisse, sonst ist es nicht möglich, neue Wege zu gehen
    • Raum für Ruhe und Rückzug in den Alltag zu integrieren hilf dabei, die sich anbahnende Enge im eigenen Kopf erst gar nicht entstehen zu lassen. Immer ist die Voraussetzung für alle Interventionen und Vorschläge, die Bereitschaft diese selbst fortzuführen
  • Betroffene dürfen lernen, sich Zeit zu geben. Vielleicht gibt es keinen größeren Stressor, als das Gefühl keine Zeit zu haben und noch so viel erledigen zu müssen und auch in einer bestimmten Art und Weise. Es nutzt den Betroffenen nichts zu sagen, dass wir alle dieselben 24 Stunden täglich zur Verfügung haben.
    • Zeit ist in ihrer Wahrnehmung sehr subjektiv und variiert nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern, wie wir alle ständig erleben, von Moment zu Moment und in Abhängigkeit vom Thema, Tageszeit, Jahreszeit und all den äußeren und selbst gewählten Anforderungen des Lebens
    • Zeit für mich selbst zu haben ist ein hohes Gut. Viele Menschen verwechseln dies mit Egoismus und doch wünschen sie sich nichts sehnlicher. Je fester wir in Mustern (samskāra) verstrickt sind, desto mehr Zeit ist notwendig, um das Dickicht hinter sich zu lassen.
    • Unser Atem braucht Raum, aber auch Zeit. Keine Vorgaben, sondern der ruhige Fluss des Atems, der sich – wenn alles gut geht – langsam nicht nur Weite sucht sondern auch Zeit nimmt. Der Atemrhythmus verlangsamt sich und damit auch unsere Gedankenfrequenz und dies wiederum verlangsamt den Atem. Beruhigte Gemüter sind nicht hitzig und brauchen nicht so viel Sauerstoff
  • Die eigenen Wertvorstellungen zu prüfen und eigentlichen, individuellen Bedürfnisse wahrnehmen zu können ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Yogaweg und insbesondere auch für Menschen mit Migräne. Oft berichten sie vom Gefühl, ihr Leben sei fremdbestimmt oder sie würden nicht „ihr“ eigenes Leben leben und nur den Anforderungen anderer entsprechen.
  • Wichtig und schwierig zugleich ist die Wiederherstellung oder Erhaltung der emotionalen Balance. Wir wissen heute, dass es unsere Gefühle sind die wesentlich bestimmen, wie wir agieren und reagieren. Wir sind verstrickt in das was wir als Wirklichkeit erleben und unsere Handlungen sind geprägt von der Interpretation unserer Rolle. Wir sind z.B. Arbeitnehmer oder Mütter, Söhne oder Fremde usw. und erleben und interpretieren alles in diesem auch kulturellen Kontext. Unsere Handlungen unterliegen einer konstanten Bewertung. Wir versuchen in der Yogatherapie den „kleinen Schritt zurück“ zu machen und einen Hauch von Distanz zu unserem eigenen Erleben und den Reaktionen auf das, was gerade geschieht zu bekommen. Diese Distanz, wir umschreiben sie mit einem Moment der Stille, des Innehaltens oder des weniger involviert seins, ermöglicht den Wechsel der Perspektive auf das Geschehen und eine Umbewertung. Wir schreiben eine neue Geschichte unseres Lebens und geben allem einen Sinn. Besteht diese Distanz nicht, dann sind wir sozusagen passiv und ohnmächtig in unserem eigenen Erleben gefangen.

 

Konkrete Vorschläge für uns als LehrerInnen oder Betroffene sind:

  • Langsame, von Wohlwollen und Verständnis getragene Sprache mit wohlschmeckenden Worten der Erlaubnis, Einladung und Klarheit
  • Ausreichende Zahl von Wiederholungen, damit ein Bewegungs- und Atemfluss entstehen kann und die Betroffenen ein Gefühl der Sicherheit entwickeln können
  • Einfache Āsana sind meist sehr effektiv, da sie sowohl regelmäßig als auch ohne großen Aufwand (Kleidungswechsel, Mattenbenutzung) geübt werden können.
  • Entspannungsübungen für die Augen, Kiefergelenke und die Schulterregion sind besonders wichtig
  • Die Praxis sollte aber auch erdende Āsana mit Bezug zu den Füßen, dem getragen und geborgen sein, der Berührung mit den Händen und Lenkung der Aufmerksamkeit weg vom Schädel
  • Unsere Erfahrung zeigt, dass die Anzahl der gezielten Āsana pro Übungssequenz fünf bis sechs normalerweise nicht übersteigen sollte, damit die Regelmäßigkeit und die Verinnerlichung der Abläufe leichter fallen.
  • Das dynamische Üben ist dem Halten von Āsana vorzuziehen, die Stille und das Innehalten sollte restaurativen Haltungen vorbehalten bleiben.
  • Die Prānānyāma halten wir sehr einfach und beruhigend, kein Atemverhalten und keine erhitzenden oder schnellen Atemtechniken. Sinnvoll sind beispielsweise die mentale Wechselatmung oder Chandra Bedhana und das Tönen. Wichtig ist die Weite der Atmung vom Brust- zum Bauchraum und darüber hinaus und den regelmäßigen Fluss zu ermöglichen.
  • Nach einiger Zeit ist die Entdeckungsreise zur natürlichen Pause nach der Ausatmung – Sunya – die Perle des Atemerlebens. Sie zu erarbeiten durch die Beobachtung von Bewegung in Koordination mit der Atmung, der aktiven Suche im Prozess der Wahrnehmung der natürlich Atmung lässt das Gefühl von Selbstwirksamkeit erlebbar werden
  • Dehnungen sollten im Bereich des Mikro-Stretching bleiben, um Verletzungen zu vermeiden; es geht nicht darum den Kopfschmerz wegzudehnen
  • Bei fortgeschrittenen Praktizierenden können wir im Gespräch vor und nach der Yogasession das aktive Gespräch und die Reflektion des Erlebten einladen
  • das Mitgeben einer gesprochenen Entspannungssequenz zum regelmäßigen Üben dahin ist besonders wertvoll und wichtig, oftmals ist auch ein geführter Body-scan hilfreich, individuell abgestimmte Visualisationen und Affirmationen
  • Unsere Erfahrung ist auch, das einfache Techniken der Meditation, sofern die Betroffenen sich darauf einlassen mögen, das Wohlwollen, die Zuversicht und das Selbstvertrauen verbessern.

Zum Abschluss

Viele Betroffene nehmen chronisch, also auch im Anfallsfreien Intervall, Medikamente, um die Symptomatik einzudämmen oder Vorzubeugen. Unter Einfluss dieser Medikamente kann es zu Nebenwirkungen kommen und es ist absolut probat danach zu fragen. Die Betroffenen wissen das selbst am besten. Unter Schmerzmitteln wird die eigene Schmerzgrenze nicht adäquat eingeschätzt, oft ohne, dass die Betroffenen das wirklich realisieren. Für uns als Unterrichtende heißt das, dass wir weit, sehr weit, wegbleiben sollten von allen Grenzen. Dies gilt sowohl für die Bewegungsgrenze als auch der Schmerzgrenze. Gerne möchten wir so arbeiten, dass unser Yoga-Angebot die Schmerzsymptomatik nicht noch verstärkt.

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