DIE KRAFT DER KÖRPERHALTUNG
Unsere Körperhaltung spiegelt unsere innere Einstellung wider. Man könnte auch sagen, dass sich unser emotionaler Zustand in unserer Körperhaltung ausdrückt. Wir alle haben immer wieder wahrgenommen und sind uns bewusst, dass die Trennung von Geist und Körper überholt ist. Yoga und andere Körperarbeitskonzepte sind ebenso wie die modernen Neurowissenschaften und ihre angrenzenden Gebiete längst zum Ergebnis gekommen, dass unser Körper nicht unabhängig von unseren Emotionen und unseren mentalen Prozessen existiert. Warum also, so frage ich mich und viele meiner Klienten in der Praxis, halten wir uns so schlecht? Sind wir zu schwach oder zu entmutigt und erschöpft? Evidenzbasierte Daten zeigen auf, dass eine nachlässige Körperhaltung und Bewegungen im Alltag Konsequenzen haben wie:
- degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (z. B. Bandscheibendegeneration, Gelenksteifigkeit, Muskelschwäche, akute und wiederkehrende sowie chronische Schmerzsyndrome der Wirbelsäule)
- Schmerzsyndrom in der Schulter, im Nacken, bis hin zu Kopfschmerzen und eingeschränkter Konzentrationsfähigkeit
- verminderte Bewegung des Zwerchfells mit negativen Folgen für die Lungenkapazität wie auch die Herz-Kreislauf- und Darmfunktion
- Verminderung der Blut- und Lymphzirkulation
- eingeschränkte Schärfe unserer Sinneswahrnehmungen
- negativen Einfluss auf die Stimmung und das Selbstwertgefühl
- Abnahme des Vertrauens in das, was man tut
- verminderte Wirkung oder Kraft der eigenen Handlungen und Worte auf andere Menschen
- verminderte Fähigkeit zum logischen und kreativen Denken und sowie zur Aufmerksamkeit
- Verkürzung nicht nur der Lebenszeit insgesamt, sondern der Zeit unseres Lebens, in der wir gesund sind
Es liegt also auf der Hand, sich zu fragen, was uns daran hindert, bei der Arbeit und zu Hause gesunde Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten zu entwickeln. Hier sind einige Antworten, die ich in den letzten Jahren vom meinen Patienten erhalten habe:
- eine würdevolle oder aufrechte Haltung ist zu anstrengend
- eine gute Körperhaltung wirkt steif oder sogar arrogant
- ich fühle mich nicht würde- und kraftvoll, also fühlt sich das unecht an
- wenn ich mit erhobenem Brustbein sitze und mich bewege, fühle ich mich verletzlicher
- alle sitzen und bewegen sich so, es kann also nicht falsch sein
- meine Physiotherapeutin sagte mir, dass sei hilfreich, das Becken nach hinten zu kippen und den Bauch nach innen zu ziehen
- wir müssen sowieso irgendwann sterben, also warum sich zu sehr anstrengen
- für mich treffen die negativen Auswirkungen nicht zu
- Ich kann nicht glauben, dass meine Rücken- und Nackenschmerzen oder meine eingeschränkte Fähigkeit zu atmen, zu denken und mich zu bewegen auf meine Haltung zurückzuführen sind
Was ist eure Ausrede, liebe Leser?
Wenn wir uns fragen, was eine mögliche Lösung sein könnte, um eine bessere Haltung und gesündere Bewegungsformen zu entwickeln? Wie können wir die Kraft und die Vorteile der Körperhaltung nutzen und die offensichtlich schädlichen Auswirkungen hinter uns lassen? Welche Schritte können wir tun, um uns auf den Weg zu einer angemessenen, ruhigen, entspannten und würdevollen Körperhaltung zu begeben?
Schritt 1) Das Wissen, dass kleine Anpassungen an unsere Haltung wie “Herzöffnung”, “neutrale Wirbelsäule” oder “Stärkung der Rumpfmuskulatur” unzählige positive Auswirkungen auf unsere allgemeine Gesundheit mit sich bringen kann helfen, unsere Motivation zu steigern.
Schritt 2) Natürlich reicht es nicht aus, zu wissen. Für die Verankerung neuer Gewohnheiten, wie klein sie auch sein mögen, sind zwei Faktoren essenziell. Die Veränderungen müssen machbar und spürbar sein. Um machbar zu sein, sollte die Schwelle zum Üben möglichst gering sein. Der Schlüssel zum Spüren ist die Achtsamkeit. Sobald ich spüren lerne, wie sich meine Gefühle und Wahrnehmung in einer neuen Haltung verändern, wird es leichter, sie einzunehmen und dranzubleiben. Die Interozeption (die Wahrnehmung unseres inneren Zustands) bringt uns die Auswirkungen der nachlässigen Haltung auf der körperlichen Ebene, dem Einfluss auf unserer Atmung und die Wachheit und Offenheit des Geistes näher und erlaubt die nachhaltige Veränderung unserer Haltungs- und Bewegungsmuster.
Schritt 3) Den meisten meiner Klienten, die mit den negativen Auswirkungen einer schlechten Körperhaltung zu kämpfen haben, schlage ich vor, sich mögliche Gründe für die Einnahme ihrer Körperhaltung und damit für die offensichtlich schädigenden Einflüsse zu überlegen. Auch wenn die Auswirkungen nicht so drastisch sind wie z. B. beim Rauchen, so sind sie doch wie oben beschrieben, verheerend. Es stellt sich die Frage, ob die eingesunkene Haltung eher auf körperliche oder emotionale Erschöpfung zurückzuführen ist oder durch zu viel ununterbrochenes Sitzen, eine zugrunde liegende Lebenskrise und/oder ein geringes Selbstwertgefühl zurückzuführen ist. Oder sind unsere Haltungs- und Bewegungsmuster unbemerkt zu unserer zweiten bzw. ersten Natur geworden? Es gibt unzählige Faktoren, die beeinflussen, wie wir uns in allen möglichen Situationen halten und verhalten. Sich der individuellen Gründe bewusst zu werden kann helfen, eine Veränderung auch wirklich einzuladen und von alten Mustern abzulassen. Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, diesen Schritt für jeden Klienten angemessen zu gestalten.
Schritt 4) Das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, mit sinnvollen kleinen Veränderungen selbst zu beginnen und sie durchzuhalten, ist von größter Bedeutung. Die direkte Erfahrung in einer Einzel- oder Gruppensitzung ist ein wunderbarer Anfang. Wichtig ist jedoch vor allem die Umsetzbarkeit im Alltag bezogen auf den zeitlichen Aufwand und die individuellen, kognitiven Möglichkeiten. Mit einer neuen Gewohnheit, z. B. einer guten Sitzhaltung, zu beginnen ist relativ einfach, aber die nachhaltige Umsetzung erfordert mindestens sechs Wochen des Durchhaltens. In dieser Zeit ist das bewusste Erleben von positiven Veränderungen im Körper und vom mentalen Zustand wichtig, um die Motivation zu erhalten. Im Verlauf des Übens wird sich die Herangehensweise von “ich muss etwas tun” zu “ich spüre meine Neugier und genieße die Veränderungen” entwickeln und die Umsetzung im Alltag erleichtern. Menschen, die ihre Haltung nachhaltig ändern, werden auch feststellen, dass andere sie anders wahrnehmen und sich entsprechend anders verhalten. Auf all dies können wir den Übenden hinweisen, um die Veränderungen positiv zu unterstützen.
Schritt 5) Ein weiterer Schritt, um die wahre Kraft der Körperhaltung zu erforschen und zu erleben, besteht darin, einige ergänzende Übungen oder Āsana anzubieten. So kann beispielsweise die Kraft und Ausdauer wichtiger Muskelgruppen, wie der Rückenstrecker, insbesondere im Bereich der Brustwirbelsäule, verbessert werden. Wenn die Verkürzung der Muskeln im vorderen Bereich des Brustkorbes und der Schultern ein Hindernis darstellen, können aktive und passive Dehnungsübungen hilfreich sein. Meiner Erfahrung nach ist es sinnvoll, eine neue Gewohnheit in die tägliche Routine zu integrieren. Beim, vor oder nach dem Putzen der Zähne, Duschen, Frühstücken, Einkaufen, bestimmten Wegstrecken oder Bereichen innerhalb des Wohnraumes, können wir uns sich selbst daran erinnern, das Brustbein leicht anzuheben oder den Rücken zu stabilisieren.
Schritt 6) Ab einem gewissen Punkt werden wir spüren, dass immer weniger Anstrengung notwendig ist und wir vom bewussten Tun zum Zulassen der neuen Haltung übergehen können, bis die neue Haltung etabliert ist und sich natürlich anfühlt. Ein verstärktes Gefühl von Verbundenheit und Energie kann ausreichen, um die geübte Gewohnheit zur neuen Normalität zu verwandeln. Zuletzt möchte ich noch darauf hinweisen, dass gesunde Bewegungen und Haltungen nicht steif und statisch sind, sondern eine wiederholte, formbare und dynamische Erfahrung um die Mitte herum, die uns ermöglicht, unser volles Potenzial, Selbstvertrauen und unsere Würde zu leben.
In diesem kleinen Artikel geht es mir darum, ein einfaches Mittel zur Verbesserung von Gesundheit und Lebensqualität aufzuzeigen. Es ist die Praxis der dynamischen und geschmeidigen Rückkehr zu einer aufrechten, würdevollen Körperhaltung. Die Wirkung derselben kann natürlich durch die Heilkräfte anderer Maßnahmen wie Ernährung, Atmung, Meditation, nährender sozialer Kontakte und Kreativität verstärkt werden. Selbst eine kleine Veränderung in einem dieser wichtigen Lebensbereiche kann positive Auswirkungen in anderen Bereichen auslösen.
Wann, wenn nicht jetzt – einfach ausprobieren! Günter