ALLES YOGA ODER WAS?
MUT ZUM “KONFRONTATIVEN” GESPRÄCH
„Dein Hosenstall ist offen.“ – „DANKE ♡“ entgegnen wir erleichtert, während wir den Konzertsaal betreten. Die Stimmung ist erhaben und alle sind ganz schick gekleidet.
Wenn wir in ein wichtiges Meeting gehen oder einfach nur aus dem Haus und unsere Wimperntusche im Nachteulen-Look verlaufen ist, wünschen wir uns doch, dass uns jemand darauf hinweist und nicht erst später, wenn die Sache gelaufen ist, die Videoaufzeichnung im Kasten und die ganze Situation ein für alle Mal eingebrannt und nicht mehr zu ändern ist.
Was, wenn dieser Moment unserer Begegnung schlussendlich gar nicht unangenehm ist,
sondern diejenige sich von uns gesehen und angenommen fühlt?
Wir haben Vermutungen, die uns hindern, einander wahrhaftig zu begegnen und nach meiner Erfahrung ist das Resultat einer solchen Zusammenkunft oft überraschend schön und befreiend und meistens ganz anders als in unserer Vorstellung! Jede echte Begegnung kann natürlich immer auch dazu führen, dass unsere Wege sich trennen.
Unser Harmoniebedürfnis und die Toleranz sind oft größer als unser Unmut und so neigt manche*r dazu, die Ansprache auf die lange Bank zu schieben. Viel Zeit vergeht, andere Teilnehmende wenden sich an die Lehrer*in und beschweren sich, die Atmosphäre ist belastet. Dazu gibt es vielfältige Beispiele und zugegeben ist es nicht immer einfach, gute Worte zu finden, insbesondere, wenn jemand in einer Krisensituation ist oder psychisch auffallend und instabil.
Dennoch ist es für niemanden hilfreich, die notwendige Klärung hinauszuzögern.
Es braucht viel Energie, das Ungelöste vor sich herzuschieben!
Um für diesen Prozess einige hilfreiche Gedanken einzuladen, will ich einen Weg in 5 Schritten aufzeigen, der den Mut zu handeln unterstützt.
1) Empathie – die Anerkennung unseres involviert seins.
In diesem Schritt werden wir gewahr, dass etwas nicht stimmt und das wir an einer herausfordernden Situation beteiligt sind. Es ist ganz natürlich und menschlich, dass wir uns je nach Charakter lieber distanzieren wollen, Abstand suchen und uns ausweichend zurückhalten oder ungefragt herauspoltern und den Betroffenen damit überrumpeln.
Es ist nicht nur wichtig, das zu spüren, sondern auch unsere innere Haltung so auszurichten, dass die nächsten Schritte von Wohlwollen getragen sind. Kleine Rituale der Besinnung können uns dabei unterstützen.
2) Reflexion – Entwirrung von Ich – Du – Wir
An dieser Stelle versuchen wir, eine Zäsur zu schaffen und uns unserer Projektionen und Vermutungen, Urteile, unserer emotionalen Berührtheit und der Verletzlichkeit insgesamt gewahr zu werden. Was ist mein Anteil daran und meine Aufgabe im Prozess? Kenne ich das Problem aus anderen Zusammenhängen? Passiert mir das gelegentlich? Was läuft beim Gegenüber ab? Könnte es andere Gründe als meine Interpretation für das Verhalten beim Anderen geben? Welches Bedürfnis könnte dahinterstecken? Könnte es sein, dass jemand anderes dieses Problem mit der Person nicht hätte? Fragen, die helfen können, innezuhalten und die Selbstwahrnehmung – svādhyāya – ganzb lebenspraktisch zu üben oder das Problem auch im Gespräch mit Berufskolleginnen oder Freund*innen zu beleuchten.
3) Mitgefühl mit mir selbst und allen Beteiligten ist die Basis unseres Unterrichts und Verhaltens und führt zum Handeln mit wohlwollender Absicht. Wie möchten wir uns begegnen? Auch uns selbst, nachdem der Konflikt schon längst gelöst wurde.
Welches Menschenbild würde es leicht machen? Das Yoga Sutra 1.33 nach Patañjali bietet hier vier großartige Lebensweisheiten an, hier in meinen Worten angedeutet:
Maitri Freundlichkeit und liebevolle Güte allen und allem gegenüber mit positiver Grundhaltung und hoher sozialer Kompetenz, den anderen lesen können
Karuna Mitgefühl für des anderen Leid, Sanftmut, Zugewandtheit und Hilfsbereitschaft und ein gutes Gefühl für Zusammenhänge
Mudita Mitfreuen mit anderen, freudvolles Gemüt, Heiterkeit und Humor
Upeksha in Gelassenheit, Gleichmut und Großzügigkeit (Entgegenkommen, Barmherzigkeit, Toleranz, Verständnis, nicht persönlich nehmen…)
4) Ehrlichkeit bedeutet Wahrhaftigkeit und Authentizität – satya, eines der 5 ethischen Grundprinzipien der yamas. Ahiṃsā ist die große Tugend und Art und Weise, nicht zu verletzen, die weiteren yama stehen in diesem Licht, auch satya. Es gilt, unsere, die eigene Wahrheit, die eigenen Bedürfnisse und die aller Beteiligten anzuerkennen und dann aufrichtig zu handeln. Das Ergebnis ist offen, aber die Handlung basiert auf einem sattvischen Prozess und nicht auf egoistischen Gründen.
Marshall Rosenberg, Begründer der gewaltfreien Kommunikation, wurde einen abends von der Polizei aufgesucht in Begleitung einer jungen Frau, die gerade von den Bahngleisen in suizidaler Absicht aufgegriffen worden war. Er hatte zu dem Zeitpunkt ein starkes Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf, erklärte sich ihr und bat sie, am nächsten Morgen wiederzukommen und ihm zu versprechen, sich in der Zwischenzeit von Eisenbahnschwellen und Ähnlichem fernzuhalten. Sie kam wieder am folgenden Morgen und nach etlichen Gesprächen in der Folgezeit erzählte sie, wie sehr es ihr in jener Nacht geholfen hatte, etwas für ihn tun zu können. Wir können nicht wissen, was wirklich im Innern anderer Menschen vorgeht aber wir können einander in der Tiefe berühren in unserem jeweiligen Seelenmoment.
Was würde ich beim nächsten Mal anders machen?
5) Integration der Lernerfahrung
Das Credo aller Gespräche über ähnliche Herausforderungen ist, dass wir einen Weg finden müssen, auf eine Person zuzugehen, mit der es Schwierigkeiten gibt. Dabei spielt es keine Rolle, ob es um unser eigenes Unwohlsein oder das andere Kursteilnehmer geht, die Verantwortung für die Atmosphäre, die in unseren Yogastunden herrscht, liegt bei uns. Mit offenem Ausgang wenden wir uns zu, sind bereit, die Reaktion des Schülers zu akzeptieren und (möglichst) nicht persönlich zu nehmen, ansprechbar zu sein für die womöglich ganz andere Perspektive und Erleben des anderen. Es geht nicht darum, das Verhalten zu maßregeln oder Anpassung zu erwirken, meist genügt es, im Geiste der interessierten Neugier ein paar Augenblicke bewusst miteinander zu verbringen, wenn wir selbst für uns da sind uns und dabei offen und geerdet fühlen. Mit offenem Ausgang setzen wir uns ein für die Bedingungen, in denen die Einzigartigkeit eines jeden Menschen zum Vorschein kommen kann. Manchmal verändert sich die Beziehung und manchmal gehen wir auseinander und sagen Lebewohl.
Im besten Fall haben alle Beteiligten aus dem wechselseitigen Prozess
eine Erfahrung fürs Leben gemacht.