UNSERE HÄNDE

 

UNSERE HÄNDE IM LEBEN – IM YOGA – IN DER THERAPIE

Im Alltag brauchen wir unsere Hände, um uns und unsere Umwelt zu erfassen. Sie beanspruchen große Teile unserer Gehirnrinde und sind eng verbunden mit unseren Sinnen. Das Fühlen und Ertasten von Temperatur, Oberflächenbeschaffenheit, Form und Konsistenz ermöglichen das Begreifen und Zuordnen. Dies sind natürliche, alltägliche und wichtige Funktionen, um unser Leben zu erspüren und auch, um Ideen in die Tat umzusetzen. Das Heben, Tragen Schrauben, Kneten, Rühren und Werfen, Hangeln, Musizieren und die beruhigende, sinnliche oder kraftvolle Berührung anderer Menschen und Lebewesen gibt unseren Händen eine besondere Bedeutung. Sie sind Ausdruck unserer Seele, bereichern unsere Sprache durch Gestik und Grußgebärden und energielenkende Handstellungen – Mudrā – begleiten Meditation oder Gebet.

In den letzten Jahrzehnten sind viele aktive Bewegungen und Bewegungsmuster, die das Zugreifen erfordern, der Technisierung unseres Alltags zum Opfer gefallen. Wir gehen auf unseren Füßen, sitzen auf Stühlen und bedienen Geräte, für die wir unsere Hände und Finger eher einseitig und weder kräftigend noch im vollen Bewegungsumfang nutzen. Daumen und Finger kommen zum Einsatz beim Scrollen und Tippen, jedoch kaum noch, um damit Nahrung zu zubereiten, zu Essen oder uns festzuhalten. Immer weniger berühren wir uns selbst oder andere Menschen. Schon lange waschen wir unsere Wäsche nicht mehr mit den Händen und auch die Handarbeit ist – nicht nur das Häkeln, Stricken, Nähen sondern auch das Gärtnern, Rühren, Graben, Stoßen und Ziehen – vielerorts und für viele Menschen aus dem täglichen Leben verschwunden. Tätigkeiten, die mit Hängen und Hangeln, Zugreifen und Stützen einhergehen, werden größtenteils von Maschinen übernommen. Die Auswirkung des modernen Alltags machen also nicht Halt vor unserem Schultergürtel, den Armen und den Händen.

Die einseitige Belastung führt zur mangelhaften Beanspruchung einiger Strukturen. Besonders die Knochen der oberen Extremitäten werden kaum noch belastet und dadurch brüchig. Die handgelenksnahe Speichenfraktur ist der häufigste Bruch des älteren Menschen, dicht gefolgt vom Schenkelhals und dem Oberarm. Osteoporose ist nur ein Beispiel für die Auswirkungen unseres Lebensstils. Neben den häufigen Frakturen der oberen Extremität sind die Arthrose der Hand- und Fingergelenke eine scheinbar „normale“ Erkrankung des älteren Menschen geworden, die viele meiner Patienten nur so am Rande erwähnen, da sie glauben, sie könnten sowieso nichts dagegen tun. Die Streck- und Beugemuskulatur der Hände und Unterarme wird ebenfalls wenig beansprucht und atrophiert, so dass geringe Belastungen rasch zu relativen Überbeanspruchungen und dann Reizung und typischen Symptome wie Schwellungen, Entzündungen, Schmerzen oder Bewegungseinschränkungen führen. Von Überbelastung sprechen wir nur dann, wenn die Belastung größer ist als die Beanspruchbarkeit.
Neben dem „zu viel, zu oft, zu lange“ und „zu wenig, zu lange nicht“ ist die inadäquate Beanspruchung der Gewebe ein weiterer Schädigungsmechanismus der Hände. Ich erlebe PatientenInnen, die sich auf seltsame Weise abstützen, um auf den Boden zu kommen oder das Greifen von Gegenständen auf eine belastende Weise ausführen. Im Rahmen sportlicher Aktivitäten ist eine defizitäre Technik jedem Trainer als Verletzungsmechanismus bekannt. Aber auch der Alltag bietet viele Möglichkeiten, belastende Bewegungsmuster immer wieder auszuführen. Viele Probleme entstehen aus meiner Erfahrung durch die Nutzung der modernen Kommunikationstechnik. Die dabei durchgeführten einseitigen Bewegungen können oft durch den verbleibenden Alltag oder Sport nicht ausreichend kompensiert werden.
Mittlerweile werden das Hängen und Hangeln sowie auch das so wichtige Stützen allenfalls noch im Yoga- oder Fitnessstudio geübt. Es fehlen die Traktion (Zug), die Kräftigung, die Nutzung des vollen Bewegungsradius, die notwendigen Koordinationsreize und die Kompression, um eine ausgewogene Beanspruchung aller Nerven, Muskeln, Knochen und Bindegewebe zu gewährleisten.

Andere häufige orthopädische Krankheitsbilder der Hände, die auch bei Yogaübenden und YogaehrerInnen immer wieder auftreten, sind das Karpaltunnelsyndrom, Sehnenscheiden- und Schleimbeutelentzündungen, Ausstülpungen der Gelenkkapsel (Ganglion) sowie der Tennis- und Golfer-Ellbogen, um nur einige zu nennen und mich hier auf die Hände zu beschränken.

Und natürlich gibt es gute Ideen, die Gesundheit der Gewebe des Schultergürtels und unserer Hände zurückzuerobern. Die offensichtlichste ergibt sich aus dem gerade beschriebenen Pathomechanismus: Wir können jeden Tag damit beginnen, unsere Hände, Arme und Schultergürtel wieder auf kreative und natürliche Weise zu gebrauchen. Den meisten Problemen würden wir damit ausreichend vorbeugen und für viele der beschriebenen Erkrankungen wäre dies der erste und wichtigste Schritt zu Heilung. Im Folgenden möchte ich die in der Überschrift genannten drei Bereiche hinsichtlich weiterer aktiver Möglichkeiten kurz umreißen.

DER ALLTAG

Der Alltag liefert die meisten, einfachsten und wirkungsvollsten Maßnahmen direkt auf dem Silbertablett. Stütz- und damit Druckbelastung zur Stärkung der Knochen und Muskulatur sowie zur Erhöhung der Resilienz des Bindegewebes (Gelenkkapseln, Haut und Unterhaut, Sehnen, Bänder und Faszien) lässt sich leicht durch das Krabbeln erreichen. Meinen Patienten empfehle ich meist 2 mal 5 Meter pro Tag in kreativer Weise über den Boden zu krabbeln. Auf Händen, Fäusten, Unterarmen und Knien oder Füßen – je nach Fitness – könnte der Weg vom Sofa in die Küche für viel Spaß und echtes Training sorgen, ohne dabei viel Zeit zu verlieren. Das kraftvolle Ausüben körperlicher „Hand“-Arbeit zuhause, im Garten, Hobby oder Sport nicht als Anstrengung, sondern Training zu erleben, kann die Motivation steigern und ist ein Segen für die Hände. Vielleicht ist es noch gar nicht so ins allgemeine Bewusstsein gedrungen, wie sehr die Griffkraft Aufschluss gibt über unser involviert sein und unsere Verbundenheit mit dem Leben.
Ebenso wichtig wie die Druckbelastung, die ja auch durch das Zugreifen, Kneten von Nahrung oder Wäsche bzw. Selbstmassage erreichen lässt, ist die Traktion. Das lockere Schütteln der Hände mit verschiedenen Bewegungsrichtungen und Kreisen der Handgelenke ist insbesondere für die Finger- und Mittelhand- sowie die Handgelenke eine sinnvolle Angewohnheit. Zugbelastungen sind für alle Gelenke eine Quelle der Regeneration. Das Aushängen an einer Stange ist nicht nur für die Wirbelsäule, sondern auch für den Schultergürtel und die Arme ein Impuls zur verstärkten Ernährung des Gelenkknorpels. Jede Stange, jede offene Treppe und viele Äste oder Geländer würden sich anbieten. Kinderspielplätze wären eine weitere Option, denn die Füße müssen zu Beginn der Hängeanstrengungen den Boden nicht verlassen. Ansonsten kann es leicht zur Überforderung der Griffkraft führen.
Malen, Basteln und beim Kochen wieder Hand anzulegen verbessern die Koordination, Kraftausdauer und sind die Grundlage variantenreichen Bewegens. Auch das Musizieren – sofern es nicht übertrieben wird, ist ein wunderbarer Stimulus für unsere Hände. Alle genannten Tätigkeiten haben viele über die Hände hinaus gehende heilende Aspekte.
Besteht eine Schwellung der Gelenke der Finger und Hände, dann sind drei Aspekte im Alltag hilfreich: Temperaturunterschiede, Ausstreichen und das Heben der Hände über die Herzhöhe. Kälte und Wärme im Wechsel mit Eiswürfeln, Wasser oder das Berühren von Gegenständen unterschiedlicher Temperatur sind einfach umzusetzen. Gelegentlich die Finger und Hände auszustreichen und sie über die Herzhöhe zu heben, können als Gewohnheit in den Alltag integriert werden. Diese Maßnahmen sind sinnvoll unabhängig davon, ob man sitzt, steht oder liegt, weil dadurch bereits rein physikalisch eine Reduktion der Ablagerung, des Wassers und der Schlacken- bzw. Stoffwechselprodukte gefördert wird.
Das in anderen Kulturen verbreitete Essen mit den Fingern, Vertauschen der Seiten von Messer und Gabel oder die Nutzung anderer „Esswerkzeuge“ als üblich ergänzen das Repertoire dessen, was wir tun können. Im Haushalt und Garten gibt es schier unendliche Möglichkeiten, aus der Einseitigkeit in die Resilienz, Beweglichkeit und damit auch Belastbarkeit der aktiven Bewegungsstrukturen zu gelangen.

IM YOGA

Im Yoga – zumindest in der Körperpraxis – sind wir deutlich mehr auf unseren Händen unterwegs. Das Stützen im Vierfüßlerstand, dem herauf- oder herabschauenden Hund, den zahlreichen Varianten der Bretthaltungen sowie bei fortgeschrittenen der Handstand erhöhen der Kompressionskräfte auf die Knochen und damit deren Dichte und führen zur Kräftigung der beteiligten Muskulatur. Die aktive, variantenreiche Nutzung der Hände in den verschiedenen Āsana – sei es in unbelasteten Haltungen (Stehen, Sitzen usw.), gering belasteten Körperstellungen (Kobra, Vierfüßler usw.) oder mit stärkerer Belastung erhöht die Widerstandkraft aller Gewebe, vorausgesetzt, die Belastung wird nicht zu abrupt gesteigert oder zu lange gehalten. In den meisten Yogapraxen wird zudem das volle Bewegungsausmaß der Finger- und Handgelenke in ausreichendem Maß genutzt, was nicht nur die Beweglichkeit, sondern auch die Qualität der Gewebe und ihrer Ernährung guttut. Es braucht wie immer auf der Matte ein gutes Körpergefühl, Selbstvertrauen, das Hören auf die Signale des eigenen Körpers und eine/n YogalehrerIn, die nicht den Ehrgeiz, sondern die nährende Mitte und Gewaltlosigkeit des Yoga in den Vordergrund stellen. Symbolischen Handgesten im Yogakontext integrieren nicht nur koordinative Aspekte des Übens, sondern verbinden unsere Hände, also den Körper, mit unseren Emotionen in Kombination mit den jedem Mudrā zugeordneten Qualitäten.

IN DER YOGATHERAPIE

In der Yogatherapie können dann noch gezielte Maßnahmen aus dem Bereich des Yoga hinzukommen. Bei modernen therapeutischen Ansätzen und auch innerhalb des Yoga geht es häufig um das Dehnen und der Fokus liegt auf der Vergrößerung des Bewegungsausmaßes. Nach meiner Erfahrung von nun über 30 Jahren, ist das eine bedauerliche Sackgasse, die allenfalls kurzfristig zur Linderung und eher zufällig zur Heilung führen kann. Sowohl für die Prävention als auch zur Regeneration steht die Wiederherstellung der natürlichen, ursprünglichen Beanspruchung unserer Hände im Vordergrund. Von der Prämisse ausgehend, dass der Körper nicht gegen uns ist, sondern wir üben müssen, seine Signale besser zu deuten, ist es logisch, dass eine Muskelverkürzung oder Verkrampfung oder Überbelastung nicht nachhaltig von einer Dehnung profitieren können. Bindegewebe, dass sich über die Zeit verdicken und auch verkürzen kann, tut dies nicht ohne Grund. Im Gegenteil, so meine Erfahrung, zeigt uns unser Körper und seine Symptomatik oft schon den Weg in die Regeneration. In der therapeutischen Yogaübungspraxis kann die sanfte, schmerzfreie und wohlwollende Bewegungsausführung – diese stellt erneut eine innige Verbindung zwischen Emotionen und Körper her – ganz gezielt für die Hände in die verschiedenen Yoga Āana eingebettet werden. Als Beispiel sei hier die Schulterbrücke genannt, in der die Hände nach oben Richtung Decke gestreckt werden oder die Hand- und Fingermuskelpumpe aktiviert werden kann. Über die zunehmende Belastung, Anzahl der Wiederholungen sowie der langsamen Vergrößerung des Bewegungsausmaßes, der Armhebung über Kopf oder zumindest Herzhöhe, der bewussten, aktiven Einbeziehung von Bewegungen in den verschiedensten Asana und kreativen Nutzung der Finger-Hand-Ellenbogen und Schulterausrichtung, unterstützt die aktive Yogapraxis den Heilungsprozess. In unseren Yogatherapieausbildungen üben wir bei diesbezüglichen Problemen gezielt, die Hände gestalterisch und ausdrucksvoll in alle gängigen Āsana einzubeziehen.

Meinen PatientInnen empfehle ich deshalb im Rahmen einer yogatherapeutischen Behandlung ihren Alltag so umzugestalten, dass die Belastung, dass Bewegungsausmaß, die Kräftigung und auch die Zugbeanspruchung schrittweise wieder auf ein natürliches Maß erhöht werden. Wir üben aus diesem Grund das Kneten und Abklopfen des Körpers und seinen verschiedenen Durchmessern (Unterarme, Oberarme, Schultern, Taille, Gesäß, Oberschenkel, Unterschenkel, Füße) mit den eigenen Händen und die sanfte und später intensiver werdende Massage, die aufgrund der unterschiedlichen Körperoberflächen sehr leicht und nachhaltig zu einer Verbesserung der Griffkraft und damit Kräftigung aller daran beteiligten Muskeln führt. Wir finden gemeinsam Möglichkeiten auch das Hängen – vom unterstütztem bis hin zu freiem Hängen – in der Natur oder im Haus wieder in den Alltag einzuführen. Das Stützen auf den Händen sichert nicht nur den ausreichenden Druck auf alle über 30 Knochen der oberen Extremität, sondern ist auch eine ideale Beanspruchung für den Schultergürtel und die Schultergelenke. Der Vierfüßlerstand mit verschiedenen Übungsvarianten und Handhaltungen bzw. Bewegungsabläufen fördert, ebenso wie die Bretthaltungen auf den Unterarmen oder Händen in Front- oder Seitstütz, eine ausreichende Kraftübertragung, um die beteiligten Knochen stabil und den Knorpel Widerstandsfähig zu machen. Das Wechselspiel von Zug und Druck gesundet alle Gewebe.

Natürliche Bewegungen wirken ebenso wie Hausmittel und heimische Kräuter zuverlässig. Kürzlich durfte ich selbst ausprobieren, wie eine Überbeanspruchung der Handgelenke mit Anwendung lokaler Quark-Zitrone-Wickel innerhalb einiger Tage und begleitet von einigen der anderen beschriebenen Maßnahmen zur ersehnten Abschwellung führte.

Es erfordert therapeutische Kreativität und Eigeneinitiative, um den Alltag und die Yogapraxis möglichst reichhaltig mit den oben erwähnten Elementen zu spicken. Ich möchte in keiner Weise die Maßnahmen der modernen Medizin schmälern, sondern lediglich das Bewusstsein dafür schärfen, dass wir auch mit natürlichen, einfachen und über Jahrhunderte erprobten Mitteln große und rasche therapeutische Erfolge erzielen können. Lasst mich gerne wissen, was eure Erfahrungen sind.

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